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Buchrezension: Wissenschaftliches Arbeiten im Jurastudium von Lars Gußen

Wie lesen Jurist*innen Texte? Was passiert in ihrem Kopf, wenn sie Sachverhalte rechtlich beurteilen? Und was zeichnet den juristischen Schreibstil aus? Darum geht es in diesem Buch, das Studierende der Rechtswissenschaft in die juristische Arbeitstechnik einführt. Ich war sehr gespannt auf die Lektüre, denn abgesehen davon, dass ich es generell immer sehr erhellend finde, das eigene berufliche Tun zu reflektieren, interessiert mich das juristische Lesen, Denken und Schreiben heute auch speziell als Visualisierungs- und Textdienstleisterin in der juristischen Informationsvermittlung.

Lars Gußen ist Dozent und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fachbereich Rechtswissenschaft der Goethe-Universität Frankfurt a. M. Sein Arbeitsbereich ist die juristische Arbeitstechnik, Schreibberatung, Fachdidaktik und Plagiatsprävention.

Um was geht es inhaltlich?

Angehende Jurist*innen müssen sich nicht nur über viele Jahre ein umfangreiches Fachwissen aneignen, sie müssen vor allem lernen, wie sie für Lebenssachverhalte, die rechtliche Fragen aufwerfen, im Rahmen eines Gutachtens eine Lösung erarbeiten. Das Buch geht ausführlich darauf ein, wie die entsprechende juristische Arbeitstechnik aussieht, welche Fähigkeiten sie erfordert und wie sie speziell im Studium angewandt wird.

Studierende erhalten die Sachverhalte in Form von Texten. Aus diesen müssen sie die rechtlich relevanten Informationen herausfiltern und mit Blick auf die Falllösung sortieren. Dabei und danach sind die Informationen gedanklich mit rechtlichem Fachwissen zusammenzuführen und entsprechend zu strukturieren. Schließlich ist das Ergebnis der Überlegungen in einem übersichtlichen Gutachten mit der richtigen Schwerpunktsetzung schriftlich festzuhalten. Diesen Dreischritt des juristischen Lesens, Denkens und Schreibens füllt der Autor nach und nach mit Inhalt. Dabei macht er nicht nur deutlich, wie eng die Arbeitsschritte miteinander verwoben sind, sondern geht auch ausführlich auf den Gutachtenstil ein, der ihnen eine Form gibt.

Neben dieser grundlegenden Arbeitstechnik erfährt man

  • wie gutachterliche Fallprüfungen im Zivilrecht, Strafrecht und öffentlichen Recht in aller Regel aufgebaut sind,
  • welche Arten von Fachtexten es in der Rechtswissenschaft als Quellen der Informationsgewinnung gibt, was sie auszeichnet, wie man sie findet und mit ihnen umgeht,
  • wie man im Studium Klausuren schreibt und
  • welche Formalitäten und Zitiertechniken bei Hausarbeiten einzuhalten sind.

Für wen ist das Buch geeignet?

Geschrieben wurde das Buch für Studienanfänger*innen. Geeignet ist es aber in weiten Teilen auch für etwas erfahrenere Studierende im zweiten und dritten Semester. In Bezug auf die Ausführungen zum Gutachtenstil profitieren letztere vielleicht sogar noch mehr von der Lektüre als Erstsemester, denn vieles kann man hier besser nachvollziehen und verinnerlichen, wenn man bereits erste Erfahrungen mit dem Gutachtenstil gesammelt hat. Das Dilemma besteht darin, dass es kaum möglich ist, in die juristische Arbeitstechnik einzuführen, wenn die Adressat*innen noch überhaupt kein rechtliches Wissen haben, es aber gerade am Anfang des Studiums besonders schwer ist zu verstehen, was eigentlich von einem erwartet wird. Meine Empfehlung an Studierende der Rechtswissenschaft ist deshalb, das Buch als Begleiter durch die ersten Semester zu verstehen und immer mal wieder darin zu lesen. Sie werden merken, dass der Erkenntnisgewinn mit Ihrem eigenen Erfahrungs- und Wissenshorizont wächst und Sie eine Menge für Ihr gesamtes Studium und auch die spätere Tätigkeit als Jurist*in lernen können.

Ein paar Abschnitte und Aussagen sind darüber hinaus sogar noch für Examenskandidat*innen und Absolvent*innen interessant. Eine Einführung in die juristische Arbeitstechnik bedeutet nämlich auch eine Reflexion der Tätigkeit als Jurist*in, die erfahrungsgemäß viel zu kurz kommt. Im Studium ist man mit der Anhäufung von Wissen beschäftigt und hat deshalb keine Zeit und nach dem Studium hat man es nicht mehr nötig. Dabei kann es sehr hilfreich sein, die eigene berufliche Aufgabe mal einen Moment mit Abstand zu betrachten. Oder wissen Sie, warum Jurist*innen auf rechtliche Fragen gerne mit „Das kommt darauf an …“ antworten? Und wenn Sie es wissen: Könnten Sie aus dem Stand erklären, was die scheinbar ausweichende Antwort mit rechtsstaatlichem Handeln zu tun hat?

Was zeichnet das Buch aus?

  • Der Autor findet Worte für das, was sich nur schwer in Worte fassen lässt, nämlich was im Kopf von Jurist*innen passiert (oder passieren sollte), wenn sie Sachverhalte rechtlich beurteilen sollen.
  • Erklärt werden nicht nur die vier Schritte des Gutachtenstils. Man erfährt auch, warum Jurist*innen überhaupt diesen speziellen Schreibstil nutzen, welche Ausprägungen er hat und wie man ihn richtig einsetzt.
  • Auch an anderen Stellen zeichnet sich das Buch durch Tiefgang aus. Es beschränkt sich nicht darauf, Dinge zu benennen, sondern erklärt auch das Warum und Wie, was durchaus erhellend ist.
  • Sehr gefallen haben mir ein paar Aussagen und Ausführungen, die bis ins Berufsleben hinein von immenser Bedeutung sind. Zum Beispiel erfährt man, wie wichtig und nützlich aussagekräftige Gliederungen von Texten sind und dass es nicht darauf ankommt, sich als Jurist*in einer möglichst komplexen Sprache zu bedienen, sondern darauf, eine klare Sprache für komplexe Inhalte zu finden.
  • Sprachliche Metaphern und Visualisierungen tragen zur Anschaulichkeit der Ausführungen bei.
  • Das Buch geht auch darauf ein, warum die Personenskizze ein sehr nützliches Mittel ist, um einen strukturierten Gutachtentext zu schreiben.
  • Im Anhang gibt es einen Übungsfall, zu dem nicht nur eine Lösungsskizze präsentiert wird, sondern auch weitere Bearbeitungsschritte: der Sachverhalt mit Markierungen, eine Zeittafel, die schrittweise Anfertigung einer Personenskizze und die Kombination derselben mit den Inhalten der Zeittafel. Schließlich gibt es sogar eine ausformulierte Lösung mit Korrekturanmerkungen.

Welche Kritikpunkte gibt es?

Mir haben häufig Fall- und Formulierungsbeispiele gefehlt. Das ist schade, denn der Autor ist eigentlich sehr um Anschaulichkeit bemüht. So arbeitet er, was bei Jurist*innen keine Selbstverständlichkeit ist, an diversen Stellen mit Metaphern und Visualisierungen. Da Studienanfänger*innen aber noch gar nicht wissen, wie juristische Fälle gestrickt sind und wie sich der Gutachtenstil liest, wären auch konkrete Beispiele für die abstrakt beschriebenen Inhalte hilfreich gewesen. Ein kleines Beispiel: In dem Kapitel, das die vier Schritte des Gutachtenstils vorstellt, werden im Abschnitt zum Obersatz noch Beispiele genannt, in den Abschnitten Definition und Subsumtion aber schon nicht mehr. Dabei hätte sich angeboten, an zumindest einen der Obersätze anzuknüpfen und die gutachterliche Prüfung schrittweise zu ergänzen. Im Abschnitt zur Subsumtion gibt es (was gut ist) zwar einen Vorschlag, wie man die wörtliche Wiederholung von Begriffen aus der Definition vermeidet. Das ist aber schon die Kür. Zunächst einmal muss man ja den Schritt der Subsumtion für sich genommen verstehen. Und dazu gehört aus meiner Sicht auch ein ausformuliertes Beispiel.

Ein bisschen Erfahrung mit dem Gutachtenstil sollte man vor der Lektüre des Buches also bereits gesammelt haben. Ich denke, dass man dann vieles besser nachvollziehen kann (vgl. oben die Ausführungen zum Adressatenkreis). Was ich mir z. B. gut hätte vorstellen können: Ein Fall inklusive gutachterlicher Lösung zum Einstieg, auf den dann im Zuge der Ausführungen immer wieder Bezug genommen wird, sodass sich beim Lesen nach und nach erschließt, wie die Falllösung erarbeitet wurde und inwiefern sie Ausdruck der juristischen Arbeitstechnik ist. So hätte sich vielleicht auch der folgende Kritikpunkt verhindern lassen:

An einer Stelle wird ausführlich erläutert, wie man Sachverhaltsinformationen und rechtliche Überlegungen im Rahmen einer Klausurbearbeitung zusammenführt. Das ist sehr lobenswert. Unglücklich ist allerdings, dass sich die Ausführungen zu einem großen Teil auf den recht umfangreichen Übungsfall im Anhang des Buches beziehen, den man an dieser Stelle noch gar nicht kennt. Umgekehrt gibt es im Anhang keinen Hinweis auf die Überlegungen zur Fallbearbeitung im Haupttext, obwohl sie gerade hier interessant gewesen wären.

Verwirrt hat mich, dass das juristische Denken nicht nur die Anwendung juristischen Wissens auf einen konkreten Sachverhalt umfassen soll, sondern auch den Wissenserwerb. Diese Verwirrung setzt sich im Kapitel zur juristischen Informationsverarbeitung fort, in dem es sowohl Abschnitte zur Arbeitstechnik in Bezug auf den Sachverhalt gibt als auch zum Erwerb von Fachwissen. Für mich sind das zwei paar Schuhe, zumal die Erarbeitung juristischen Fachwissens der Sachverhaltsbearbeitung ja in der Regel und in weiten Teilen vorgelagert ist.

Als Lektorin hätte ich schließlich an einigen Stellen sprachlich nachgebessert, wichtige Sätze als Merkposten ausgezeichnet und auch noch an ein paar anderen Stellen strukturierend eingegriffen bzw. an der Darbietung der Inhalte gefeilt. Gut und wichtig fand ich z. B. die Unterscheidung zwischen Gutachtenstil, verkürztem Gutachtenstil, Feststellungsstil und Urteilsstil. Hier hätte sich angeboten, die Begriffe, die Situationen, in denen man sie anwendet, und je ein Formulierungsbeispiel in einer Tabelle zu präsentieren. Bei der Einflechtung und Auszeichnung der Beispiele und Tipps hätte ich mehr darauf geachtet, dass sie im Textfluss funktionieren, ohne dass es zu sprachlichen Wiederholungen kommt und eine klare inhaltliche Abgrenzung zum Fließtext erkennbar ist.

Unterm Strich

Lars Gußen hat Studienanfänger*innen mit diesem Buch einen hilfreichen Begleiter an die Hand gegeben, der erfreulich tiefgehend vermittelt, wie man juristisch denkt und arbeitet. Da es nicht zu allen Ausführungen Fall- und Formulierungsbeispiele gibt, empfehle ich das Buch vor allem Studierenden, denen der Gutachtenstil im Studium bereits begegnet ist und die erste eigene Erfahrungen damit gesammelt haben. Darüber hinaus erhalten Sie einen guten Überblick über alles, was Sie neben dem Gutachtenstil noch verstanden haben müssen bzw. wissen sollten, um im Studium wissenschaftlich arbeiten und Klausuren und Hausarbeiten schreiben zu können. Obwohl mein Jurastudium schon zwanzig Jahre her ist, habe ich das Buch mit großem Interesse gelesen und durchaus noch Dinge erfahren, die ich vorher nicht wusste.

Weitere Infos

Im UTB-Online-Shop gibt es weitere Informationen zum Buch. Insbesondere können Sie einen Blick ins Buch inkl. Inhaltsverzeichnis werfen. Informationen zum Autor finden Sie auf der Website der Uni Frankfurt. Vernetzen kann man sich mit ihm z. B. auf Twitter (@JurFachdidaktik) und Xing (Profil von Lars Gußen).


Nicola Pridik

Nicola Pridik
Ich bin Juristin und Inhaberin des Büros für klare Rechtskommunikation in Berlin. Mit meinen Dienstleistungen unterstütze ich Sie dabei, Rechtsinformationen verständlich und anschaulich für Ihre Zielgruppe(n) aufzubereiten. Dabei steht die Visualisierung von Recht im Mittelpunkt. kontakt@npridik.de


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